
Ich habe Krebs – na und?
13. November 2019
Gerade erkundigen sich viele Menschen nach meinem Wohlbefinden. Das freut mich. Und wenn ich erzähle, wie es mir so geht, freuen sich viele mit mir.
Dann gibt es Menschen – oft Menschen, die nicht von mir persönlich von meiner Erkrankung erfahren haben – die auf mich zukommen, mich tief anschauen und mich mit gesenkter Stimme und ernsten Gesicht fragen: “Dagmar, wie geht es dir denn jetzt?”
“Mir geht es gerade super, danke!”, antworte ich meistens, weil es meistens stimmt.
Den Menschen enthuscht ein leises “Oh!”
Krebs und gut gehen -darf das sein?
Ja, klar.
Ja, gerade jetzt.
Denn die letzten Monate habe mein Bewußtsein über das unglaubliche Geschenk des Lebens geschärft. Ich habe vor eine Weile eine Entscheidung getroffen: Ich leide nicht.
Ich leide nicht an Krebs und erst recht nicht an meinem Leben.
An den allermeisten Tagen lebe ich voller Freude und Lust.
Natürlich darf es mir mal beschissen gehen.
Ich darf traurig sein, wenn mir danach ist, wütend, oder auch mal zweifelnd.
Oder weinen.
Ich darf den Krebs auch mal total blöde finden.
Aber ich leide nicht.
Leiden ist passiv. Ich ertrage etwas, wenn ich leide, halte aus.
In der Hoffnung, dass es irgendwann besser wird. Ich verschiebe mein Leben nicht auf morgen, sondern lebe jetzt, egal, mit welchem Zubehör.
Vor 16 Jahren bekam ich einmal einen Ausschlag am ganzen Körper. Auch mein Gesicht war mit kleinen Pusteln übersät. Der Grund für den Ausschlag ließ sich nicht herausfinden. Alle paar Tage kam ein neuer Schub Pusteln.
Ich fühlte mich sehr unwohl damit. Menschen, denen ich begegnete, starrten mich manchmal erschrocken an. Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun konnte, damit der AUsschlag verschwindet.
Ich hatte vor ein paar Monaten im Winter begonnen, eine neue Theatergruppe zu leiten.
Jetzt war es Mai und endlich warm geworden. An einem Theaterabend wartete ich auf einer Bank bei angenehmer Maiensonne im Garten vor unserem Proberaum auf die Spieler und Spielerinnen.
Einem Mann, der seit ein paar Wochen dabei war, fielen fast die Augen aus den Höhlen, als er mich sah.
Ich lachte und sagte:
“Ich habe einen Ausschlag bekommen.”
“Ach so, und ich dachte schon: So sieht sie bei Tageslicht aus!”, antwortete er mit der frappierenden Ehrlichkeit, die ich bei ihm noch öfter erleben würde.
Seine Reaktion brachte mich zu einem Gedanken, der meine Sichtweise auf meinen Ausschlag völlig veränderte.
Was ist, wenn ich den Ausschlag behalte?
Was ist, wenn das so bleibt?
Was ist, wenn ich ab jetzt mit den Pusteln leben werde?
Soll ich mich dann weiter damit unwohl fühlen.
Soll mich das unglücklich machen und mich leiden lassen?
Oder entscheide ich mich dafür, dass der Ausschlag einfach da sein darf.
Und dass ich weiter mein Leben lebe, mit Freude und Energie, auch mit Ausschlag, der ja nur ein Teil meines Lebens ist.
Von dem Tag an beeinträchtigte mich der Ausschlag kaum noch. Ja, er war noch da, juckte manchmal und brauchte ab und an Aufmerksamkeit. Die bekam er dann und dann wendete ich mich wieder anderen Dingen zu. Auch die Reaktion anderer auf meinen Ausschlag nahm ab. Es gab immer noch die Erschrockenen -na und?
Und nach einer Weile verschwand der Ausschlag so still wie er gekommen war.
Das, was ich durch ihn gelernt hatte, aber blieb:
Ich kann mich jederzeit und unabhängig von unberechenbaren Faktoren für mein Leben entscheiden. Das Unberechenbare, das ist auch Teil de Lebens. Wieviel Gewicht ich ihm schenke, ist meine Entscheidung. Es darf da sein.
Und so ist es auch mit dem Krebs, der ja trotz aller Erfolge, die es heute in der Behandlung gibt, unberechenbar bleibt. Gebe ich dem Unberechenbaren viel Gewicht, kann es mich lähmen.
Akzeptiere ich es aber als einen Teil des Lebens, der durch den Krebs einfach nur stärker in mein Bewußtsein gerückt ist, dann kann ich mich auch all den anderen Bereichen meines Lebens entspannt zuwenden.
Keiner von uns weiß, was im Leben uns noch begegnet.
Ich nicht.
Und du auch nicht.
Das, was immer da ist, ist die wunderbare Kraft der Gegenwart.
Und das ist einfach nur geil.

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